Die Betriebliche Altersversorgung (bAV) der Volksfürsorge

Volksfürsorge Altersversorgung

1. Einleitung

Die betriebliche Altersversorgung (bAV) der Volksfürsorge, gegründet 1912 als gewerkschaftlich-genossenschaftliche Versicherung, stellt ein prägendes Beispiel für die Entwicklung der sozialen Absicherung in Deutschland dar. Ursprünglich von Pionieren wie Adolph von Elm, Carl Legien und Theodor Leipart mit dem Ziel einer „Roten Volksversicherung“ ins Leben gerufen, bot sie über Jahrzehnte hinweg umfassende Versorgungsleistungen für ihre Belegschaft. Dieses Whitepaper beleuchtet die historischen Zusagen, die daraus resultierenden Herausforderungen nach Unternehmensübernahmen und die rechtlichen Auseinandersetzungen, die für Betriebsrentner und Rechtsnachfolger von hoher Relevanz sind.

Volksfürsorge Altersversorgung

2. Problemstellung

Das Kernproblem der Volksfürsorge bAV liegt im Spannungsfeld zwischen langfristigen, werthaltigen Versorgungszusagen und den wirtschaftlichen Interessen der Rechtsnachfolger, insbesondere der Generali Deutschland AG und später der Run-off-Plattform Viridium Gruppe.

Die Herausforderungen manifestieren sich in mehreren Punkten:

  • Komplexe Versorgungsordnungen: Die bAV der Volksfürsorge basierte auf vielschichtigen Regelwerken wie dem Betrieblichen Versorgungswerk (BVW) von 1961 und der Versorgungsordnung von 1985 (VO85). Diese sahen eine Gesamtversorgung vor, bei der die Betriebsrente (Pensionsergänzung) zusammen mit der gesetzlichen Rente und Leistungen der Versorgungskasse ein definiertes Niveau sichern sollte.
  • Dynamische Anpassungsklauseln: Ein zentraler Bestandteil der Zusagen war die dynamische Anpassung der Renten, die sich an der Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung orientieren sollte (§ 6 Ziff. 1 AB BVW, § 6 Ziff. 1 TV VO).
  • Einseitige Kürzungen durch Rechtsnachfolger: Nach der Übernahme durch die Generali wurden diese Anpassungen in den Jahren 2015 und 2016 einseitig auf 0,5 % reduziert, obwohl die gesetzlichen Renten deutlich stärker stiegen. Generali berief sich dabei auf eine Klausel, die eine abweichende Anpassung bei "Nicht-Vertretbarkeit" erlaubte (§ 6 Ziff. 3 AB BVW, § 6 Ziff. 4 TV VO).
  • Rechtsstreitigkeiten und Verjährungsdruck: Die Kürzungen führten zu hunderten Klagen von ehemaligen Volksfürsorge-Mitarbeitern. Generali weigerte sich, die Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) als Grundsatzurteile anzuerkennen, wodurch jeder Betroffene gezwungen war, individuell zu klagen. Gleichzeitig drohte die Verjährung der Ansprüche.
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3. Lösungsansätze

Der primäre Lösungsansatz zur Klärung der Streitigkeiten war der gerichtliche Weg, der in einer Serie von Urteilen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in den Jahren 2018 und 2019 mündete.

Die zentralen rechtlichen Argumente und Entscheidungen waren:

  • Auslegung der Anpassungsklausel: Das BAG stellte klar, dass die Klausel zur "Nicht-Vertretbarkeit" (§ 6 Ziff. 3 AB BVW) dem Arbeitgeber zwar ein Leistungsbestimmungsrecht einräumt, dieses aber nur eine gleichmäßige prozentuale Veränderung der Gesamtversorgungsbezüge erlaubt, nicht jedoch eine isolierte und abweichende Anhebung einzelner Bestandteile wie der Pensionsergänzung. Die von Generali vorgenommene Anpassung um nur 0,5 % wurde daher als rechtlich unwirksam eingestuft.
  • Anwendung auf Aufhebungsvereinbarungen: Auch in Fällen, in denen individuelle Aufhebungsvereinbarungen die Systematik der Gesamtversorgung beendeten, urteilte das BAG, dass die Verweisung auf die "betrieblichen Bestimmungen" zur Anpassung weiterhin auf die Regeln des BVW verweist. Somit war auch hier die Anpassung an die Steigerung der gesetzlichen Rente geboten.
  • Bedeutung des Betriebsrentengesetzes (BetrAVG): Die Urteile basieren maßgeblich auf den Schutzvorschriften des BetrAVG, insbesondere zur Anpassungsprüfungspflicht (§ 16 BetrAVG), und den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) und des billigen Ermessens (§ 315 BGB).
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4. Vorteile und Nutzen

Die BAG-Rechtsprechung brachte entscheidende Vorteile und Nutzen für die betroffenen Betriebsrentner:

  • Rechtssicherheit: Die Urteile schufen Klarheit darüber, dass historische Versorgungszusagen auch nach Unternehmensübernahmen und Umstrukturierungen ihre Gültigkeit behalten und nicht einseitig zum Nachteil der Rentner ausgelegt werden dürfen.
  • Finanzielle Nachzahlungen: Erfolgreiche Kläger erhielten signifikante Nachzahlungen für die zu gering ausgefallenen Rentenanpassungen sowie eine höhere laufende Betriebsrente.
  • Präzedenzwirkung: Obwohl Generali die Anerkennung als Grundsatzurteile verweigerte, dienen die Entscheidungen als wichtige Referenz für ähnliche Fälle in der gesamten bAV-Landschaft und stärken die Position von Versorgungsempfängern gegenüber Arbeitgebern.
  • Schutz des Vertrauens: Die Rechtsprechung schützt das Vertrauen der Arbeitnehmer in die Langfristigkeit und Verlässlichkeit von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung.
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5. Praxisbeispiele

Die Rechtsprechung des BAG liefert konkrete Fallstudien zur Wirksamkeit der juristischen Lösungsansätze. Hier einige zentrale Entscheidungen:

  • BAG, Urteil vom 25.09.2018 – 3 AZR 333/17: Das Gericht urteilte, dass § 6 Ziff. 3 AB BVW die Beklagte (Generali) nur berechtigt, das Gesamtversorgungsniveau gleichmäßig zu verändern. Eine isolierte Anhebung nur der Pensionsergänzung um 0,5 % war unwirksam. Es verblieb bei der Anpassungspflicht entsprechend der gesetzlichen Rentenentwicklung.
  • BAG, Urteil vom 25.09.2018 – 3 AZR 468/17: In diesem Fall stritten die Parteien ebenfalls über die Anpassung zum 01.07.2015. Das BAG bestätigte, dass die Gesamtversorgungsbezüge um 2,09717 % hätten erhöht werden müssen, und sprach dem Kläger entsprechende Nachzahlungen zu.
  • BAG, Urteil vom 20.08.2019 – 3 AZR 23/18: Hier ging es um eine Rente, die durch eine Aufhebungsvereinbarung als Festbetrag zugesagt, aber "nach den betrieblichen Bestimmungen angepasst" werden sollte. Das Gericht entschied, dass auch hier die Anpassungsregeln des BVW greifen und die Rente entsprechend der gesetzlichen Rentensteigerung anzuheben ist.
  • BAG, Urteil vom 19.11.2019 – 3 AZR 127/18: Dieses Urteil befasste sich ebenfalls mit einer Aufhebungsvereinbarung und der Wirksamkeit eines Sozialplans. Das Gericht bekräftigte seine Auslegung der Anpassungsklauseln und verwies die Sache zur Klärung des Rechtscharakters des BVW (Gesamtbetriebsvereinbarung oder Gesamtzusage) an das Landesarbeitsgericht zurück.
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6. Fazit und Ausblick

Die Geschichte der Volksfürsorge bAV ist ein Lehrstück über die Verbindlichkeit langfristiger Versorgungszusagen. Die wegweisenden Urteile des Bundesarbeitsgerichts haben die Rechte Tausender Betriebsrentner gestärkt und klargestellt, dass wirtschaftliche Optimierungsstrategien eines Konzerns nicht ohne Weiteres über Jahrzehnte gewachsene und vertraglich zugesicherte Versorgungsansprüche aushebeln können.

Für die Zukunft ergeben sich folgende Perspektiven:

  • Run-off und Bestandsverwaltung: Die Pensionsverpflichtungen der ehemaligen Volksfürsorge-Mitarbeiter wurden mittlerweile auf die PLE Pensions GmbH übertragen, eine Rentnergesellschaft unter dem Dach der Viridium Holding AG. Die Verwaltung der bAV-Kollektivbestände verbleibt jedoch im Rahmen einer strategischen Zusammenarbeit bei einem Kompetenzcenter der Generali Deutschland AG. Es bleibt zu beobachten, wie sich diese Struktur langfristig auf die Erfüllung der Zusagen auswirkt.
  • Aufsichtsrechtliche Kontrolle: Die Übertragung wurde von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) genehmigt, die auch die Finanzstabilität solcher Run-off-Plattformen überwacht. Der Schutz der Versichertenbelange bleibt eine zentrale aufsichtsrechtliche Aufgabe.
  • Gesetzliche Reformen: Zukünftige Gesetzesänderungen wie das Betriebsrentenstärkungsgesetz (BRSG) zielen darauf ab, die bAV zu modernisieren. Für historische Zusagen wie die der Volksfürsorge bleiben jedoch die alten Regelwerke und die darauf basierende Rechtsprechung maßgeblich.

Die Causa Volksfürsorge/Generali unterstreicht die Notwendigkeit transparenter Regelungen und die Bedeutung des Vertrauensschutzes für eine nachhaltig funktionierende betriebliche Altersversorgung.

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7. Quellenangaben

Dieses Whitepaper basiert auf den zur Verfügung gestellten Dokumenten, die insbesondere historische Unternehmensdaten, Satzungen von Versorgungseinrichtungen und eine umfassende Sammlung von Urteilen des Bundesarbeitsgerichts umfassen.

Wichtige Referenzurteile:

  1. BAG, Urteil vom 25.09.2018 – 3 AZR 333/17
  2. BAG, Urteil vom 25.09.2018 – 3 AZR 468/17
  3. BAG, Urteil vom 20.08.2019 – 3 AZR 23/18
  4. BAG, Urteil vom 19.11.2019 – 3 AZR 127/18
  5. BAG, Urteil vom 25.09.2018 – 3 AZR 402/17

Historische und regulatorische Grundlagen:

  • Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB) der Versorgungskasse der Volksfürsorge Leben (Stand 08/2000)
  • Regelungen des Betrieblichen Versorgungswerkes (BVW)
  • Tarifvertrag über die betriebliche Versorgungsordnung vom 01.04.1985
  • Satzung der Versorgungskasse der Volksfürsorge VVaG
  • Satzung und Leistungsplan der Stiftung Volksfürsorge Deutsche Sachversicherung
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